„Sie kommen, sie kommen!“
Kaum waren die Rufe der Wächter verklungen, wurde mit lautem Gepolter das schwere Stadttor geschlossen und mit den dicken Eisenketten die Zugbrücke eingeholt. Detmud, die gerade die Wirsingköpfe auf dem Karren stapelte, hielt inne und versuchte in der Menge ihren Mann auszumachen. Die Bürger der Stadt, die soeben noch die Waren bestaunt hatten, liefen nun wild gestikulierend durcheinander und es dauerte eine Weile, bis sie die rote Kappe Neidharts erkannte. Er stand am Eingang zur Weinschenke.
„Natürlich, wo denn sonst“, dachte Detmud und versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Endlich bemerkte er ihr Winken und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Sofort begann er, das Gemüse wieder in den Jutesäcken zu verstauen.
„Ich wusste doch, wir sollten heute nicht auf den Markt fahren. Aber dass sie gerade jetzt angreifen müssen! Wären wir nur zu Hause geblieben! Was wird denn nun aus uns?“ Detmuds Worte waren mehr gemurmelt als gesprochen, denn sie wusste, dass Neidhart es hasste, wenn sie jammerte. Oft genug hatte er sie deshalb schon geschlagen. Zu Recht, denn für eine junge Frau, die seit kurzem das Glück der Ehe genießen durfte, ziemte es sich nicht, ihr Los zu beklagen, auch wenn sie erst sechzehn war.
„Jetzt hilf mir doch“, schnauzte Neidhart sie an. „Wir müssen den Karren zum Pferch schieben und uns dort einen Platz für die Nacht suchen!“
Der umzäunte Bereich, in dem die Bauern während des Marktes ihre Zugtiere lassen mussten, grenzte direkt neben dem Tor an die Stadtmauer. Ein einfaches Strohdach schützte die Tiere vor Wind und Wetter. Auf dem kleinen Platz davor hatten andere Marktfahrer, die schneller als sie gewesen waren, schon ihre Karren abgestellt. Vom Wächter jedoch, der verhindern sollte, dass die Tiere gestohlen wurden, fehlte jede Spur. Als Detmud zwischen den Ochsen und Eseln ihr Pferd Schecke entdeckte, atmete sie erleichtert auf. Witternd hob das kleine braune Pferd mit den weißen Flecken auf dem Fell den Kopf. Detmud scharrte das Stroh zusammen und stapelte die Säcke mit den Wirsingköpfen an der Wand. Oben auf der Mauerkrone hörte sie die Schritte und Rufe der Bürgerwehr, die in Windeseile die Verteidigung der Stadt organisierte. Sie kauerte sich neben ihrem Pferd nieder. Wie lange sie wohl hier ausharren mussten? Die Belagerung einer Stadt konnte sehr lange dauern – so lange, bis die Menschen, die darin eingeschlossen waren, verhungert waren. Oder aber die Bewohner wurden niedergemetzelt, wenn es den feindlichen Heerscharen gelang, die Stadt zu erobern.
„Neidhart, ich habe Angst! Was ist, wenn die Stadt fällt? Werden sie uns alle umbringen?“
Kopfschüttelnd sah Neidhart auf sie herab.
„Was du schon wieder denkst, Frau. Unser Schicksal liegt in Gottes Hand, was er beschließt, wird geschehen, da hilft es nicht sich groß den Kopf darüber zu zerbrechen. Ich werde sehen, ob ich in der Schenke erfahre, wie es um die Verteidigung der Stadt bestellt ist, ob Entsatz erwartet wird oder ob der Herzog daran denkt, zu kapitulieren. Pass du ja gut auf unsere Wirsingköpfe auf, wenn die Belagerung länger dauert, können wir sie sicher teuer verkaufen!“
Als sie Neidhart nicht mehr sehen konnte, wagte Detmud, ein Stückchen Brot aus dem Säckel zu nehmen. Sie hatte nichts mehr gegessen, seit sie sich im Morgengrauen auf den Weg gemacht hatten und in ihren Eingeweiden rumorte es. Bedächtig kaute sie Bissen für Bissen, während sie sich umsah. Dicht gedrängt säumten die niedrigen Holzhäuser der Handwerker den kleinen Platz. Zwischen ihnen gab es nur wenige schmale Gassen zum oberen Teil der Stadt, der einzige breite Weg führte vom Stadttor an der Kirche und den Gebäuden der reichen Bürger vorbei zur Burg des Herzogs.
„Sehet, der Tag der Vergeltung ist da! Gott wird uns für unsere Sünden und unseren Hochmut strafen!“ Das Holzkreuz hoch erhoben, überquerte ein Wandermönch in dunkler Kutte den kleinen Platz. Hinter ihm schlurften betend und wehklagend einige Bürgerfrauen im Büßerhemd. Sein Blick traf Detmud und schien sich wie eine Lanze in ihr Herz zu bohren.
Neben Detmud hockte eine Frau, die verbissen einen Weidenkorb mit Küken umklammerte.
„Du bist allein hier?“ Die Frau sah ängstlich auf und rückte ein wenig von Detmud ab. „Du brauchst keine Angst zu haben, ich werde dir deine Küken nicht stehlen. Hier, nimm ein Stückchen von dem Brot! Wie ist dein Name?“ Erst nach einigem Zögern wagte die Frau, die Gabe anzunehmen.
„Man nennt mich Reinhild. Ich musste meine Kinder auf dem Weiler zurücklassen“, begann sie zwischen einzelnen Bissen zu erzählen, „damit ich nach dem Markt auch sicher wiederkomme und nicht etwa in der Stadt eine Anstellung suche. Mein Mann wurde letzten Sommer von einem Baum erschlagen, seither ist alles viel schlimmer geworden. Oh, du guter Gott, beschütze meine Kinder vor den feindlichen Horden! Vielleicht haben sie den Weiler schon eingenommen und meine Kinder leben gar nicht mehr!“
Reinhild schluchzte auf und Detmud legte tröstend einen Arm um sie.
„Das tut mir leid, doch Gott wird über ihr Schicksal wachen. Kinder wurden mir noch keine geschenkt, unser wichtigstes Gut ist dieses Pferd, das wir Schecke nennen. Mein Mann hatte ihn sich bei unserer Hochzeit als Mitgift ausbedungen.“ Detmud streichelte den Kopf des Pferdes, das dicht neben ihr an ein paar Strohhalmen kaute. „Kannst du ein paar Momente auf ihn und unsere Säcke aufpassen? Der Wächter ist ja fort, und ich möchte ihm vom Brunnen etwas Wasser holen.“ Die Frau, die noch immer an der letzten harten Kruste des Brotes kaute, nickte stumm.
Der Platz vor dem Pferch lag nun verlassen da. An der Rampe, die auf die Stadtmauer führte, versuchten einige Männer, die schweren Katapulte nach oben zu ziehen. An den Schießscharten sammelten sich Männer mit Armbrüsten, bereit, die Feinde abzuwehren. Schnell bekreuzigte sich Detmud und huschte zum Brunnen. Dort warteten nur wenige Frauen und Mädchen darauf, ihre Holzzuber zu füllen und wo sonst munteres Geschwätz herrschte, blieb es heute still. Auch Detmud nickte nur zum Gruß und wartete stumm, bis die Reihe an ihr war. Auf dem Rückweg versuchte sie, so wenig Wasser wie möglich zu verschütten, denn Schecke hatte sicher schon großen Durst. Reinhild hatte gut aufgepasst und erleichtert sah Detmud, dass Schecke und auch die Säcke mit den Wirsingköpfen unversehrt waren. Zum Dank bot sie ihr einen Schöpfer Wasser an, bevor sie den Kübel vor Schecke auf den Boden stellte, der sofort mit tiefen Zügen zu saufen begann.
Neidhart kehrte erst kurz vor Einbruch der Dämmerung zurück. Sein Atem roch nach Wein, die Kappe saß schief auf seinem Kopf und er konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten.
„Frau, ich habe gute Nachrichten! Morgen können wir alle unsere Wirsingköpfe an den Wirt der Schenke verkaufen und bekommen dafür täglich eine Schale Suppe mit Brot, und das, solange die Belagerung währt! Du kannst stolz auf mich sein, denn ich habe gut gehandelt!“ Neidhart ließ sich ächzend nieder, lehnte sich an die Säcke mit dem Wirsing und begann sofort lauthals zu schnarchen. Detmud wechselte einen besorgten Blick mit ihrer Nachbarin, doch sie wagte nicht zu sprechen, um Neidhart nicht im Schlaf zu stören.
Am nächsten Morgen lud Neidhart die Säcke auf den Karren.
„Neidhart, tausche doch auch Stroh und Heu gegen den Wirsing ein, Schecke hat nichts mehr zu fressen!“
„Immer denkst du nur an den Gaul! Aber gut, vor den Pflug gespannt arbeitet er besser als ein Ochse, und den Karren kann er auch schneller ziehen. Ich werde sehen, was ich tun kann.“
Die Stunden vergingen quälend langsam, doch Neidhart kehrte nicht zurück.
„Meinst du, deinem Mann ist etwas zugestoßen? Ist er gar in einen Raufhandel geraten und man hat ihm den Wirsing gestohlen?“
„Das glaube ich nicht. Er ist stark und kann sich wehren. Er hat in der Schenke wohl wichtige Männer getroffen, die ihm berichten, wie es um die Belagerung steht und was der Herzog zu tun gedenkt. Er kommt bestimmt bald wieder und bringt uns Suppe und für Schecke Heu und Stroh.“ Doch erneut begann es bereits zu dämmern, als Neidhart ohne den Karren und mit leeren Säcken zurückkehrte. Er hielt Detmud eine Schüssel voll Gerstensuppe hin.
„Hier, Frau, iss. Ich habe meinen Teil schon in der Schenke bekommen.“
„Und der Karren? Und das Heu für Schecke? Sieh nur, er ist schon ganz unruhig vor Hunger!“
„Der Wirt hat es mir für morgen versprochen und den Karren habe ich einstweilen dort sicher verwahrt, hier brauchen wir ihn ja nicht.“
„Sag doch gleich, dass du den Karren gegen Wein eingetauscht hast!“, wollte Detmud aufbegehren.
Neidhart hob drohend die Hand. „Still, das verstehst du nicht und ist nicht deine Sache! Doch ich konnte erfahren, dass ein Ausfall geplant ist. Sicher hat unsere Plagerei bald ein Ende und wir können auf unseren Hof zurück.“ Er bedeckte sich mit den leeren Säcken und war alsbald eingeschlafen. Detmud löffelte ihre Suppe und bot auch Reinhild ein paar Schöpfer an. Immer wieder fiel ihr Blick auf Schecke, der unablässig mit den Hufen scharrte.
„Ich muss Heu für Schecke besorgen“, wagte Detmud Reinhild zuzuflüstern. „Wenn Neidhart erwachen sollte, sag ihm, ich bin gegangen um meine Notdurft zu verrichten. Das wird ihn beruhigen.“ Leise erhob sich Detmud, nahm vorsichtig einen der leeren Säcke, raffte ihr Gewand zusammen und schlich aus dem Pferch. Es war bereits dunkel geworden und sie musste aufpassen, nicht in die Rinnsale von Abfällen und Exkrementen zu treten. Von früheren Markttagen wusste sie, wo sich die Stallungen des Herzogs befanden. Sie hatte dort eine kleine Pforte gesehen und betete zu Gott, dass die Pferde nicht bewacht wurden. Schnell schlüpfte sie hindurch. Die edlen Rösser des Herzogs hoben zwar ihre Köpfe, als Detmold an ihnen vorbeihuschte, doch sonst war niemand zu sehen. Sie füllte ihren Sack mit duftendem Heu und lief lautlos zurück. Neidhart schlief immer noch tief und fest seinen Rausch aus. Auch die anderen Bauern, die im Pferch lagerten, bemerkten nichts von Detmuds heimlichem Ausflug, obwohl ihre Tiere unruhig wurden und versuchten, an Scheckes Heu zu gelangen, der bereits zufrieden zu fressen begonnen hatte.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sich der Platz vor dem Stadttor mit den Reitern des Herzogs und dem gewappneten Fußvolk der Bürgerwehr füllte. Die Wachen ließen die Zugbrücke hinunter, öffneten das Tor und die Kämpfer stürmten hinaus. Alsbald hörte man Geschrei und Kampfeslärm. Neidhart lief die Rampe hinauf, um die Schlacht zu beobachten und zu sehen, ob er sich bei der Verteidigung nützlich machen konnte. Detmud und Reinhild schmiegten sich zitternd aneinander. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie hörten, dass die Hörner zum Rückzug geblasen wurden. Oben auf der Stadtmauer machten sich die Verteidiger der Stadt bereit und entfachten Feuer unter den Kesseln, die schwarzes Pech enthielten.
„Platz da, Platz da!“ Eilig wurde das Tor geöffnet, und schon stürmten die ersten Reiter herein. Manche hielten sich nur mühsam auf ihren Pferden und waren von schrecklichen Wunden übersät. Noch schlimmer war es um das Fußvolk bestellt. Die wenigen, die noch selbst gehen konnten, stützten ihre verwundeten Kameraden. Detmud und Reinhild bekreuzigten sich und drückten sich eng an die Wand des Pferchs. Kaum hatten sich die letzten Kämpfer hinter den Mauern in Sicherheit gebracht, holte man die Zugbrücke ein und schloss eilig die Tore. Würden die Verfolger den Graben überwinden und bis an die Stadtmauern gelangen? Vielleicht schossen sie auch Brandpfeile über die Mauer, und das Dach des Pferchs war doch aus Stroh … Detmud bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und wagte kaum zu atmen, während hinter der Brüstung die Bogenschützen einen Pfeil nach dem anderen abschossen. Endlich kam Neidhart die Rampe herab, sein Gesicht war rußverschmiert.
„Der Feind zieht sich zurück, Gott sei es gedankt! Der Herzog hat zwar die Schlacht verloren, aber es ist ihm gelungen, einen Boten zu seinem Schwager zu schicken, der sicherlich bald Entsatz schicken wird. Ich muss mir aber nun in der Schenke meine trockene Kehle befeuchten, denn ich habe beim Anheizen der Kessel geholfen. Was soll ich auch untätig hier sitzen, solange es in der Schenke noch Wein gibt?“
„Denk bitte an das Heu für Schecke“, rief ihm Detmud noch nach, doch er hörte sie nicht mehr.
„Meinst du, er wird an das Heu denken?“
„Nein, ich glaube nicht“, murmelte Detmud. „Ihm liegt nichts an Schecke oder mir. Er denkt nur an seine Saufkumpane und das Kartenspiel. Doch so sind die Männer und es steht uns nicht zu, unser Schicksal zu beklagen.
Tatsächlich kehrte Neidhart ohne Heu zurück. Sobald er eingeschlafen war, machte sich Detmud wieder auf den Weg zu den Stallungen des Herzogs. Sie war gerade dabei, Bündel um Bündel in den Sack zu packen, als eine herrische Stimme ertönte.
„Was machst du hier?“
Erschreckt sah Detmud auf. Im Dämmerlicht erkannte sie eine Frauengestalt in einem weiten Mantel. „Oh, verzeiht mein Eindringen! Mein Pferd hungert, und Neidhart, mein Mann, hat versäumt, in der Schenke Heu zu besorgen. Habt Mitleid mit mir und straft mich nicht!“
„So, ein Pferd hast du? Gestohlen, nehme ich an?“
„Nein, Euer Gnaden! Mein Vater erhielt es als Fohlen, zum Dank dafür, dass er die Lehensherrin aus einem Sumpf gerettet hat. Und mein Mann hat sich das Pferd als Mitgift ausbedungen. Ich kenne Schecke mein halbes Leben lang und es dauert mich, ihn so hungrig zu sehen“.
„So so! Komm näher, lass dich anschauen!“
Zögernd trat Detmud auf die Frau zu. Sie war jung, etwa in ihrem Alter, und den Saum ihrer Haube zierten zarte Spitzen. Darunter lugten keck blonde Locken hervor.
„Du brauchst dich nicht zu fürchten, ich werde dich nicht verraten. Ich bin Gotelind, des Herzogs Tochter. Komm, setz dich zu mir ins Stroh und erzähle mir ein wenig von dir und deinem Schecke.“ Sie strich eine Strähne aus Detmuds Gesicht.
Schnell trat Detmud einige Schritte zurück.
„Ich sagte doch, du brauchst dich nicht zu fürchten,“ lachte Gotelind. Sie ließ sich im Stroh nieder, fasste Detmud an der Hand und zog sie zu sich herab.
„Ich soll dir von mir und Schecke erzählen? Als ich ein Kind war, durfte ich nach der Arbeit auf ihm reiten. Es war so wunderbar, mit ihm über die Felder zu fliegen. Er tat alles, was ich wollte, und folgte mir überall hin. Ich habe keinen besseren Freund als ihn!“
„Das ist eine schöne Geschichte“, flüsterte Gotelind und streichelte behutsam Detmuds Schulter. „Früher hatte ich auch einen Pferdefreund. Doch eines Tages musste er mit meinem Bruder in die Schlacht ziehen und kehrte nie zurück.“
Detmud sah zu Gotelind auf. Sie hatte wunderschöne strahlend blaue Augen.
„Das tut mir leid.“
„Es braucht dir nicht leid zu tun, es war sein und mein Schicksal. Doch ich lasse mich gerne trösten von dir.“ Gotelind umfasste mit beiden Händen Detmuds Kopf. Ihr Atem duftete nach Milch und Honig. Detmud erschauerte, als sie die Berührung von Gotelinds Lippen auf ihren spürte. Zaghaft erwiderte sie den Kuss, der so ganz anders war als Neidharts harte Berührungen. Dann vergrub sie sich in Gotelinds Körper und vergaß alles um sich herum.
„Wo warst du so lange? Neidhart ist aufgewacht und wollte dich suchen gehen, aber ich konnte ihn beruhigen.“ Reinhilds Stimme klang vorwurfsvoll.
„Ich wurde fast erwischt und musste mich verbergen. Aber jetzt bin ich ja hier.“ Detmud schüttelte das Heu aus dem Sack und Schecke begann sogleich zu fressen. Bis Neidhart erwachte, würde nichts mehr davon übrig sein.
„Ich werde morgen versuchen, meine Küken in der Schenke zu verkaufen. Die Belagerung dauert wohl noch länger an und ich hoffe, dass ich gutes Geld für sie bekommen werde. Wenn ich nur wüsste, wie es meinen Kindern geht“, seufzte Reinhild.
„Bald wirst du wieder mit ihnen vereint sein“, murmelte Detmud beruhigend und fiel in tiefen Schlaf.
Anderntags, bald nachdem Neidhart sich zur Schenke aufgemacht hatte, verabschiedete sich auch Reinhild und Detmud blieb allein und untätig zurück. Die anderen Marktfahrer, die ihr Schicksal teilten, saßen dösend herum. Die Wachen auf der Stadtmauer wurden abgelöst und einige Frauen gingen zum Brunnen, um Wasser zu holen. Detmud dachte an Gotelind und sofort beschleunigte sich ihr Herzschlag. Ob sie heute wieder im Stall warten würde?
„Das Jüngste Gericht steht bevor! Wehe den Sündern, denn sie werden in der Hölle ewige Verdammnis finden!“ Der Wanderprediger zog mit seiner Gefolgschaft über den Platz. Es waren nun auch Männer darunter, die sich geißelten, um für ihre Taten Sühne zu tun, während die Frauen unablässig Gebete murmelten.
Detmud erschrak. War es nicht Sünde gewesen, was sie und Gotelind gestern im Stall getan hatten? Welcher gerechten Strafe sie Gott wohl zuführen würde? Doch mit Gotelind zusammen zu sein hatte sich so gut und richtig angefühlt. Der Teufel war wahrlich ein trefflicher Verführer, doch sie würde seinen Verlockungen von nun an nicht mehr nachgeben.
Reinhild kehrte zurück und unterbrach ihre düsteren Gedanken.
„Schau was ich für meine Küken bekommen habe!“ Sie zeigte Detmud stolz ein paar Münzen, eine Rinde Brot und ein kleines Stück Braten. „Aber viel wichtiger ist, was ich dort erfahren habe, denn ich konnte einen Streit zwischen Neidhart und dem Wirt belauschen. Der Wirt forderte Neidhart auf, seine Schulden für Spiel und Wein zu begleichen, denn der Erlös für die Wirsingköpfe wäre schon lange aufgebraucht. Neidhart wurde wütend und nannte den Wirt einen Beutelschneider. Doch der Wirt lachte nur. Da meinte Neidhart, er hätte eine junge und hübsche Frau, die er dem Wirt zuführen könnte, damit sie ihm und seinen Gästen zu Willen sei. Darauf besiegelten beide den Handel mit einem Handschlag und umarmten sich. Detmud, dein Mann hat dich verkauft, du musst flüchten!“
Detmud starrte Reinhild an, unfähig, ein Wort hervorzubringen. War das die gerechte Strafe, die Gott für sie bereit hielt?
„Du weißt doch, Reinhild, die Frau ist ihres Mannes Eigentum. Wenn er mich also für einen Schoppen Wein an den Wirt verkauft, so wird das wohl mein Schicksal sein. Und wohin sollte ich auch flüchten? Das Stadttor ist verschlossen und draußen wartet der Feind. Doch vielleicht hat Gott ja Erbarmen mit mir und erweicht Neidharts Herz.“
Als Neidhart gegen Abend zurückkehrte, reichte er Detmud wie üblich ihre Schüssel Gerstensuppe und legte sich zum Schlafen hin, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
„Neidhart, du guter Mann, ich danke dir, dass du so gut für mich sorgst! Besser hätte ich es nicht treffen können“, versuchte Detmud ihrem Mann zu schmeicheln und rückte näher an ihn heran.
„Lass mich in Frieden, Frau. Siehst du nicht, dass ich erschöpft bin und meine Ruhe brauche? Schweig still und lass mich schlafen.“ Neidhart drehte sich weg von ihr und bald erhörte sie sein lautes Schnarchen.
Detmud blickte Reinhild an und zuckte mit den Schultern. Vorsichtig richtete sie sich auf, griff nach dem Sack und verschwand in der Dämmerung.
Detmud schlüpfte durch die Pforte und roch den Duft von Gotelinds Haut, noch bevor sie im Halbdunkel ihre Gestalt erkennen konnte. Langsam kam Gotelind näher und nahm ihr behutsam den Sack aus der Hand.
„Ich werde dir nachher helfen, ihn mit Heu zu füllen“, flüsterte sie. Sanft tasteten ihre Finger nach dem Gürtel, der Detmuds Kutte zusammenhielt. Der Sack fiel zu Boden.
„Nein“, stöhnte Detmud. „Das ist Sünde! Wir dürfen nicht …“
„Schschsch.“ Gotelind verschloss Detmuds Mund mit einem Kuss.
Sie lagen beide erschöpft im Stroh, als sich Gotelind plötzlich aufrichtete.
„Ich muss dir etwas sagen.“ Sie streichelte zärtlich Detmuds Wange.
„Es ist kein Ende der Belagerung in Sicht. Mein Vater erhielt heute die Nachricht, dass kein Entsatz kommen wird. Wir sind auf uns allein gestellt, und die Vorräte werden knapp. Deswegen wird morgen verkündet werden, dass alle Tiere innerhalb der Stadtmauern geschlachtet werden müssen. Die einzige Ausnahme sind die Pferde in den herzoglichen Stallungen, sie werden für den Kriegsdienst gebraucht. Ich habe versucht, ihn zu überreden, auch die anderen Pferde der Stadt zu verschonen, doch vergebens. Es wird also auch deinen Schecke treffen.“
„Nein! Nicht mein Schecke!“ Mit einem Ruck setzte Detmud sich auf.
„Kann ich ihn nicht hier in den Stallungen in Sicherheit bringen? Er ist doch alles, was ich habe.“
„Es tut mir so leid, das ist unmöglich. Wirst du denn weiterhin kommen, um mich zu treffen?“
„Nein, nicht mein Schecke, bitte nicht, nicht meinen Schecke …“ Unter Tränen füllte Detmud den Sack mit Heu und lief davon, ohne sich weiter um Gotelind zu kümmern.
Die ganze lange Nacht saß Detmud neben ihrem Pferd, ohne ein Auge zuzutun. Reinhild hatte bald aufgegeben, nach der Ursache ihrer verweinten Augen zu fragen und war eingeschlafen. Endlich zeigte sich das erste Morgenrot. In die Menschen, die auf dem Boden des Pferchs geschlafen hatten, kam Bewegung, die Tiere schnaubten und scharrten im schmutzigen Stroh. Neidhart streckte sich und nahm einen Schluck Wasser.
„Frau, heute darfst du mich in die Schenke begleiten. Du wirst sehen, es wird dir dort gefallen. Reinhild wird einstweilen auf Schecke aufpassen.“
In Detmuds Kopf dröhnte es, Stimmen und Bilder wirbelten durcheinander.
„Verkauft!“
„Du wirst bezahlen für deine Sünden!“
„Es wird auch deinen Schecke treffen!“
„Büßen wirst du in der Hölle!“
Der weiße Leib Gotelinds, der Duft ihrer Haut -
„Sünde … ewige Verdammnis … verkauft … Schecke … geschlachtet …“
„Nein!“ Detmud schrie auf. Sie löste den Strick, der Schecke an den Pfosten band und schwang sich auf seinen Rücken. Mit einem Satz überwanden sie den Zaun des Pferchs und galoppierten die Rampe der Stadtmauer empor. Hinter den Wäldern, vor denen das feindliche Heer lagerte, ging soeben die Sonne auf.
Detmud beugte sich zum Hals des Pferdes und flüsterte in sein Ohr: „Spring in die Freiheit, Schecke, spring!“
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